Temazcal – Schwitzkur auf Mexikanisch

Mexiko

Der Schweiß strömt hinunter, über das Gesicht, die geschlossenen Augen, den Hals, den ganzen Körper. Er dringt aus jeder Pore. Es herrscht Finsternis, durchbrochen nur von dem gelegentlichen Aufflackern von kleinen Glutflecken in den heißen Steinen. Immer wieder ertönt das Zischen der Steine, wenn sie mit Kräutersud bespritzt werden. Dampf steigt auf. Die nach Rosmarin und Eukalyptus duftende Luft ist so heiß, dass ich mich vor dem nächsten Atemzug scheue.

Wer sich einem Schwitzbad in einem mexikanischen Temazcal unterzieht, muss sich auf extreme Umstände einstellen. Fast eine Stunde lang wird der Körper in einer runden, niedrigen Hütte aus Stein oder Lehm, die wie ein Pizzaofen aussieht und je nach Größe zwischen zwei und 20 Leute fasst, extrem hohen Temperaturen ausgesetzt. „Das Temazcal fördert die Selbstheilungskräfte des Körpers. Das seelische Gleichgewicht wird wieder hergestellt“, erklärt der Heiler Navarro.


Im Gegensatz zu den meisten anderen Arten von Schwitzbädern, die etwa in der Türkei, in Skandinavien oder in Nordamerika bekannt sind, dient ein traditionelles Temazcal in erster Linien nicht dem allgemeinen Wohlbefinden, der körperlichen Reinigung oder einfach nur der Entspannung. Für die Mayas, Azteken, Mixteken und Zapoteken war es ein therapeutisches Instrument und ein integraler Bestandteil ihrer medizinischen Praxis. Der Begriff Temazcal, der heute benutzt wird, kommt aus dem Nahuatl, der Sprache der Azteken, und bedeutet übersetzt so viel wie Badehaus. „Der Körper wird durch die Hitze in einen fieberähnlichen Zustand versetzt. Die Körpertemperatur kann bis zu 40 Grad steigen. Der Kreislauf fährt hoch, der Herzschlag wird schneller und intensiver. Gifte werden über das extreme Schwitzen ausgeschieden“, erklärt Navarro. Die Nieren entgiften während einer Stunde Temazcal soviel wie an einem Tag.

Vor ein paar Jahren hat Navarro in San José del Pacifico sein Temazcal eröffnet. Die wenigen Häuser des 370-Seelendorfes im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca schmiegen sich eng an den Scheitel eines fast 2500 Meter hohen Berges der Sierra Madre del Sur. Ein paar mexikanische und ausländische Touristen machen hier manchmal für ein paar Tage Halt auf dem Weg zu den Pazifikstränden rund um Puerto Escondido. Sie finden hier Einsamkeit, gute Luft und unberührte Natur. Manche kommen auch auf den Geschmack von halluzinogenen Pilzen, die in der Gegend wachsen und verkauft werden. Diese Besucher bleiben dann meist etwas länger. Massentourismus, wie in Cancún, gibt es hier jedoch nicht und auch zu Navarro verirren sich nicht viele. Das Grundstück des Heilers liegt an einem steilen Abhang außerhalb des Dorfes. Tief unten erstreckt sich ein grünes Tal eingefasst von Pinien-Hängen. Auf einer kleinen geraden Fläche hat Navarro ein einfaches Temazcal aus Lehm erbaut. Hier behandelt er seine Patienten.

Frühmorgens beginnt der Heiler mit den Vorbereitungen für sein Temazcal. Unter einem kleinen Wellblechdach schürt er das Feuer, um darin Steine zu erhitzen. „Diese müssen große Temperaturunterschiede aushalten. Sie werden erst erhitzt und in der Schwitzhütte dann mit Wasser begossen, um die hohen Temperaturen und den Dampf zu erzeugen. Vulkansteine eigenen sich besonders gut dafür“, so Navarro. Mit einer Jeans und einer roten Windjacke gegen den morgendlichen Frost erfüllt Navarro kaum das Klischee eines mexikanischen Heilers. Mit seinen bloßen Händen greift er nach den heißen Steinen, um sie anzuordnen. Die Hitze scheint ihm nichts auszumachen. „Ich bin mit dem Feuer verheiratet“, sagt er lächelnd. Dann rührt er ausgewählte Kräuter und Blätter in einen zerbeulten Topf mit Wasser, der auf dem Feuer steht. Je nach Beschwerde passt er die Zutaten im Aufguss an. So kann er gezielt Atemwegserkrankungen, Kreislaufprobleme, Gelenksschmerzen oder Hautausschläge behandeln. Auch Frauen, die gerade ein Baby bekommen haben, besuchen oft ein Temazcal. „Überschüssiges Wasser wird vom Körper abgestoßen und das Becken schließt sich wieder“, weiß der Heiler.

Nach der aztekischen Mythologie ist das Temazcal ein Mikrokosmos, der in sich das Universum nachstellt. Und so finden sich in einem Temazcal die vier Elemente Erde, Wind, Feuer und Wasser. Diese korrespondieren auch mit den vier Himmelsrichtungen, was sich in der Bauweise eines Temazcal widerspiegelt. Der Eingang ist immer südwärts gerichtet, dort wo die Sonne am Höchsten steht; er wird auch „Pfad des Todes“ genannt. Wir bewegen uns, vom Moment unserer Geburt immer Richtung Tod. Der Ofen in dem die Steine erhitzt werden, ist gen Osten gerichtet, dort wo die Sonne aufgeht. Das Feuer ist das männliche Element oder der Sonnengott Tonatiuh und das Temazcal selbst ist der Leib der Mutter Erde. Nachdem Navarro die Vorbereitungen abgeschlossen hat, krieche ich auf meinen Knien durch die niedrige schmale Öffnung in das Innere des Dampfbades. Behutsam platziert Navarro die heißen Steine mit einer Schaufel in einer Mulde in der Mitte des Temazcal und  schließt die Öffnung, so dass kein Lichtstrahl mehr hineinkommt.

„Ein Temazcal zu betreten bedeutet für uns die Rückkehr in den Mutterleib. Abgeschlossen von der Außenwelt, können wir in uns gehen und zur Ruhe kommen“, so der Heiler. Und tatsächlich: in dem warmen, feuchten und dunklen Raum überkommt einen schon bald ein wohliges Gefühl von Geborgenheit. „Wenn wir die Dunkelheit und die Stille des Raumes verlassen, gleicht das einer Wiedergeburt“, so Navarro.

Das Gerücht, dass auch die Beatles sich in San José del Pacifico bereits Temazcal-Sitzungen unterzogen haben, hält sich seit Jahren hartnäckig, so wie die Wolken, die sich im grünen Tal unten verfangen haben. Auf die Frage, ob Navarro etwas darüber weiß, zuckt der 52-Jährige als Antwort nur gleichgültig mit den Schultern. Der Heiler, der auf der weit entfernten Halbinsel Yucatán aufgewachsen ist, hat sich aus anderen Gründen hier niedergelassen. „Ich habe hier alles was ich für meine Arbeit brauche“, sagt er und bricht ein riesiges Blatt von einer Pflanze ab „Das ist Arnika. Es wirkt entzündungshemmend und hilft bei Muskelschmerzen.“ Dann zeigt er auf ein Gewächs hinter sich. „Und das ist Yerba del Negro. Es regt die Produktion von weißen Blutkörperchen an. Ein Hilfsmittel gegen Krebs.“ Er kennt jede Pflanze in seinem wild wuchernden Garten und öffnet seinen Besuchern die Augen für die unglaubliche Vielfalt an Blumen, Kräutern, Büschen und Bäumen, die rund um sein Temazcal wachsen. „70 Prozent der Pflanzen auf meinem Grundstück haben eine medizinische Wirkung. Das Wasser, welches ich für das Kochen der Kräutersude benötige, kommt von einer Quelle nicht weit von hier und die Vulkansteine finde ich im Wald“, sagt Navarro.

Nicht nur Touristen aus Mexiko und dem Ausland kommen hierher, um zu schwitzen. „Ich heile auch Menschen aus der Region. Der Alltag hier ist hart. Viele können nicht lesen und schreiben. Oft können sie ihre Probleme nicht in Worte fassen. Diese Sprachlosigkeit macht sie krank. Sie verstummen. Wenn sie zu mir kommen, dann bringe ich sie dazu, ihre Schmerzen zu beschreiben und nach der Ursache zu suchen“, erklärt Navarro, der nun auf einer Bank in seiner Holzhütte sitzt. In einer Ecke liegen verschiedene Haufen von getrockneten Kräutern, an der Wand hängen schwarz-weiß Fotos. Zwei davon zeigen Maria Sabinas. Sie war die erste Heilerin oder Curandera Mexikos, die Anfang der 1960er Jahre Ausländer behandelte. Hippies, Wissenschaftler und im Laufe der Zeit auch Promis wie John Lennon, Mick Jagger und Keith Richards pilgerten zu ihr auf der Suche nach körperlicher Heilung und spiritueller Klarheit. Für Letzteres griff Sabinas auf die so genannten hongos magicos oder magic mushrooms zurück. Ein anderes Foto an Navarros Wand zeigt seine Großmutter.

„Als kleiner Junge habe ich ihr assistiert“, erinnert er sich. Heute noch, mit 92 Jahren, arbeitet sie auf Yukatán als Heilerin. Von ihr hat Navarro alles gelernt. Wie eine Temazcal-Sitzung durchgeführt wird und welche Pflanzen was heilen. „Leider sind viele der traditionellen Rezepte für Heilmittel verloren gegangen“, fügt er hinzu. Als die spanischen Konquistadoren Anfang des 16. Jahrhunderts nach Mexiko kamen, fanden sie in fast jedem Haus ein Temazcal. Sie waren entsetzt. Für sie war die Therapiemethode der Ureinwohner bloß ein heidnisches Ritual. Eine der wichtigsten Gottheiten der Azteken war Temazcalteci, die Göttin der Medizin und Heilpflanzen, und eine Erscheinungsform der Göttin Teteoinan, der Mutter der Götter. Ihr Abbild oder ihre Statue zierte viele Temazcals. Diese Götzenverehrung konnten die Spanier nicht hinnehmen.

Hinzu kam, dass Männer und Frauen gemeinsam und auch noch nackt in den Schwitzhütten saßen. Die Eroberer waren überzeugt davon, dass in den engen, heißen Räumen orgiastische Zeremonien stattfanden. Und so verboten sie die Praxis und zerstörten die Lehmiglus wo sie nur konnten. „An manchen Stellen haben sie sogar Kapellen über die Temazcals gebaut“, sagt Navarro.

Doch seit einigen Jahren findet eine Wiederbelebung der alten Tradition statt. Und so trifft man nicht nur in den luftigen Höhen von San José del Pacifico auf die Schwitzhütten, sondern auch an der Pazifikküste, im trockenen Norden von Mexiko oder im Urwald vom südlich gelegenen Chiapas. Immer mehr Hotels nehmen sie in ihr Angebot auf, um  Touristen die traditionelle Medizin der Ureinwohner Mexikos näher zu bringen. Francesco etwa arbeitet seit fast zwei Jahren im Spa eines Hotels in Palenque im Bundesstaat Chiapas als Temazcalero. Ein Jahr lang lernte der erst 18-Jährige bei einem traditionellen Heiler. „Ich bin Maya. Es war mir wichtig, die Tradition meiner Vorfahren aufrecht zu erhalten und sie auch an andere Menschen zu vermitteln“, erklärt Francesco seine Beweggründe als Temazcalero zu arbeiten. Nur ein paar Kilometer von seiner Arbeitsstätte entfernt, liegen die Überreste einer alten Maya-Metropole, die im 7. Jahrhundert florierte, und die heute zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören. In den Ruinen der Tempelanlage von Palenque, die zum Großteil vom Dschungel überwuchert sind, fand man Überreste eines Temazcals. Dieses, genauso wie jene, die in anderen antiken Stätten Mittelamerikas wie etwa Xochicalco und Teotenango entdeckt wurden, waren luxuriöse Gebäude mit Stuck und dekoriertem Interieur. Auch Francescos Temazcal ist etwas mondäner als Navarros einfache Schwitzhütte in den Bergen. Das Abbild des Azteken-Gottes Tlaltecuhtli, dem Herren der Erde, schmückt die Front des mit Stroh bedeckten Temazcals. Weiße Liegen und kleine Hütten mit Massagebänken laden zum Entspannen ein. Eine Sitzung in Francescos Temazcal ist weniger therapeutischer, sondern vielmehr zeremonieller Natur. „Es geht darum, die Seele zu reinigen. Deshalb wird bei dieser Art von Temazcal der Raum schnell sehr hoch erhitzt. Das hilft dabei Körper und Geist voneinander zu trennen“, so der junge Heiler, der für die Sitzung seine Jeans und sein T-Shirt gegen einen Lendenschurz und ein Stirnband getauscht hat. Tiefe, volle Töne, die Francesco mit einer kleinen Pfeife erzeugt, begleiten seine Besucher durch das Ritual. Immer wieder stimmt er einen Sprechgesang an: „Wasser mein Blut, Erde mein Körper, Luft mein Atem und Feuer mein Geist“. Meditativ wirkt das stetige Wiederholen der Wörter, die der Heiler vorspricht. Erst wenn die Gesänge verstummt sind und der Körper die Hitze nicht mehr zu ertragen scheint, krieche ich aus dem Leib der Mutter Erde. Wohlig ausgestreckt auf einer Liege, gebe ich mich der totalen Entspannung hin, schweife mit dem Blick über den sternenvollen Nachthimmel und danke den Ureinwohnern Mexikos für ihre kosmischen Weisheiten.



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